Marlin Ukat wird »Bärenkind« 2015/2016
Der kleine Hausacher mit Trisomie 21 steht im Mittelpunkt der Adventsaktion des Forum Hausach
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Katrin und Steffen Ukat mit dem sechs-jährigen »Bärenkind« Marlin und dessen zweijährigen Bruder Lino. |
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Hausach. In einem Affenzahn flitzen zwei Buben mit ihren Bobbycars um die Kochinsel. Den beiden kleinen Formel-1-Fahrern blitzt die pure Lust an der Raserei aus den Augen, sie scheinen sich ebenbürtig zu sein, der zweijährige Lino und der sechsjährige Marlin. Später am Tisch zeigt sich, dass Marlin nicht überall so gut mit seinem Bruder mithalten kann. Eine Laune der Natur hat ihm ein Chromosom zuviel beschert. Marlin kann beispielsweise seine Zunge nicht beherrschen wie andere Kinder. Das heißt, er kann weder kauen noch sprechen. Die Eltern Katrin und Steffen Ukat wussten schon früh in der Schwangerschaft, dass ihr Kind möglicherweise mit Down-Syndrom zur Welt kommen würde. Den ärztlichen Rat einer Fruchtwasseruntersuchung schlugen sie aus. Mit der Gewissheit, dass ihr erstes Kind behindert sein würde, hätte die Entscheidung zur Abtreibung bei ihnen gelegen. Doch sie waren sich einig: »Wenn ein Kind stirbt, dann soll es sterben. Aber wir wollen nicht daran schuld sein. Es soll kommen, wie’s kommt.«
Und es kam, wie’s kam. Katrin Ukat war es beim ersten Blick auf ihr Kind klar, denn sie hatte sich in der Schwangerschaft schon sehr intensiv mit Trisomie 21 befasst. In Blogs hatte sie Kontakt zu anderen betroffenen Familien, konnte deren bedingungslose Liebe zu ihren Kindern erahnen. Der große Schock, ein behindertes Kind zu haben, blieb deshalb zunächst aus. »Aber ich bin dennoch immer wieder in ein Loch gefallen«, gesteht die junge Mutter. Zum Beispiel bei der ersten Rückbildungsgymnastik, als alle Mütter ihre gesunden Kinder zeigten. Da kam schon der Gedanke auf: »Warum trifft’s gerade mich?«
Über die Down-Syndrom-Stiftung der Ortenau bekamen die jungen Eltern Kontakt zu anderen Eltern mit Trisomie-21-Kindern. Und nun bilden betroffene Familien in Haslach eine große »Jule«-Gruppe. »Das braucht man, das ist sehr wichtig«, sagt Katrin, welch große Bedeutung der Austausch mit Eltern hat, die die gleichen Probleme kennen.
Dabei sind die Handicaps der Kinder sehr vielfältig. Bei Marlin ist es vor allem die Zunge, die er nicht unter Kontrolle hat. So fällt ihm das Schlucken schwer, Kauen und Sprechen geht gar nicht. Als die Mama ihr Kind auf Breikost umstellen wollte, war jeder Löffel Brei ein Kampf. »Wir dachten, das legt sich!« Es legte sich nicht. Marlin isst noch heute Babybrei – und zwar nur gekauften. »Ich kriege die Konsistenz, die er braucht, auch mit der besten Küchenmaschine nicht hin«, sagt die Mutter. Und Vater Steffen zeigt ein Fläschchen der hoch kalorischen Getränke, die Marlin trinken muss, um den Energiebedarf eines Sechsjährigen zu decken.
»Marlin lernt viel mit und von dem vier Jahre jüngeren Bruder Lino«
Da haben die Eltern zum ersten Mal erfahren, dass zu den Erfahrungen mit behinderten Kindern auch der Kampf mit den Gesundheitsbehörden kommt. Die Krankenkasse wollte nämlich zunächst keine Essstörung anerkennen, sollen sie ihr Kind halt weiter mit der Flasche füttern, Punkt. Als Marlin krank wurde, magerte er immer mehr ab, wog mit zweieinviertel Jahren gerade noch acht Kilo.
Katrin und Steffen päppelten ihr Kind liebevoll, aber mühsam wieder auf. Dreimal 200 Milliliter der Kaloriendrinks, 11,67 Euro pro Tag, 350 Euro im Monat. Als Marlin drei Jahre alt war, hat die Krankenkasse die Essstörung endlich anerkannt und die Kosten übernommen.
Als Marlin in vielen Dingen von seinem kleinen Bruder überholt wurde, merkte er das sehr wohl und wurde aggressiv. Das hat sich wieder gelegt. Er lernt viel mit und von dem vier Jahre jüngeren Lino – und in seinen regelmäßigen Logopädie- und Ergotherapiestunden. Das Kauen und das Sprechen lernte er noch nicht. Ein Hoffnungsfunke wäre die Tomatis-Metholde für Menschen mit Sprachschwierigkeiten. Die wird allerdings von den Krankenkassen nicht übernommen »und würde unser gesamtes Privatleben auffressen«. Das ist einer der Gründe, weshalb sie sich nun auf ihr »Bärenfamiliendasein« freuen.
Der Hauptgrund ist aber nicht das Geld. Gerade des Geldes wegen taten sie sich auch lange schwer, das Angebot anzunehmen. Die Ukats erfahren großartige Unterstützung von ihren Familien, ihren Therapeuten, dem Kindergarten »Sternschnuppe«, und sie kommen wirklich gut klar mit ihrem liebenswerten, fröhlichen Jungen, »es gibt viele Kinder, die es weit schlechter haben«, begründet Steffen Ukat, weshalb er lang dagegen war.
Es geht ihnen vielmehr um den Effekt, von dem viele Eltern ehemaliger »Bärenkinder« berichten: dass die Menschen ihr Kind kennenlernen und ihm anders begegnen, wenn sie um deren Handicap wissen. Wie oft haben die jungen Eltern schon bitterböse Blicke geerntet, wenn sie Marlin sein Essen reinschieben, während dieser auf dem Tablet einen Film angucken darf. »Dabei geht es einfach nicht anders. Marlin hat keinerlei Genuss beim Essen, wir müssen ihn ablenken, damit er überhaupt etwas isst«, erklärt die Mama. »Mit Marlin lernen wir die Welt ganz anders kennen. Er ist eine große Bereicherung«
Um die Zukunft ihres Jungen ist es ihnen nicht bange. Er wird nach dem Kindergarten hoffentlich mit einer Inklusionsbegleitung in Hausach in die Schule gehen können, und wenn er erwachsen ist, wird er selbstständig in einer betreuten WG leben können – und vielleicht irgendwo in einer Küche arbeiten: »Wenn er putzen, staubsaugen oder die Spülmaschine ausräumen kann, ist er glücklich«, schmunzelt die Mama. »Das ist alles heute so viel besser als früher, als man die Kinder noch versteckt hat und sie an der Gesellschaft überhaupt nicht teilhaben durften«, ergänzt der Papa. Und beide Eltern betonen: »Mit Marlin lernen wir die Welt ganz anders kennen. Er ist für uns eine große Bereicherung!«
Autor:
Claudia Ramsteiner |